Die Bedeutung von Raumfahrt für unsere Kosmologie
Allgegenwärtig, nicht infrage gestellt: Der Raum. Doch in den letzten hunderten Jahren hat sich unsere Vorstellung vom Raum stark geändert. Dieser Veränderungsprozess ist noch nicht abgeschlossen, denn neue Technologien eröffnen uns Türen zu unbekannten Räumen. Im mittelalterlichen, christlichen Denken gab es einen Dualismus in der Kosmologie: Es gibt einen physikalischen Raum und einen Seelenraum. Der physikalische Raum ist der Bereich der Menschen. Je weiter man gen Himmel unterwegs war, desto mehr veränderte sich der Raum zu einem nichtphysikalischen, göttlichen Raum. Umgekehrt findet sich im Zentrum des Universums die Hölle. Die Stärke des Christentums war die Parallelität der dualistischen Kosmologie aus physikalischen und Seelenraum gepaart mit dem Dualismus aus Körperlichkeit und Seelen. Die Fortschritte in der Physik und die Entwicklung neue Werkzeuge wie bessere Teleskope konnte diese Kosmologie verändern. Wir wissen, dass der Raum euklidisch ist und sich in alle Richtungen ausdehnt. Vermutlich ist er sogar unendlich in seiner Ausdehnung. Der Raum ist jetzt durchweg physikalisch und eine Verortung des Metaphysischen ist nicht mehr möglich. Wo früher das himmlische Seelenreich verortet wurde, reisen heutzutage Raumsonden und schicken uns Bilder zur Erde. Der mittelalterliche Kosmos ist eine Theorie aus menschlicher Erfahrung. Ich würde daher behaupten, dass das christliche dualistische Weltbild intuitiver als das moderne physikalische ist, wobei diese Bewertung autobiographisch geprägt ist. Die physikalische, monistische Kosmologie ist inhärent nicht die plausiblere, denn beide Kosmologien beinhalten menschlich nicht erfahrbaren Raum. Die Bedeutung der Raumfahrt ist daher für die Akzeptanz unsere Kosmologie nicht zu unterschätzen. Die Bilder von Sternen, Planeten und neuerdings eines schwarzen Lochs machen die moderne Kosmologie menschlich erfahrbar und beweisen die Korrektheit. Visualisierungen der Entstehung des Universums zeigen oft eine Kugel, die seit dem Urknall größer wurde. So glaubte ich lange Zeit, dass der Raum kugelförmig begrenzt ist. In der Tat ist dies aber nur das beobachtbare Universum, also der Bereich des Universum, von dem wir Informationen erhalten. Eine Kugel hat ein Zentrum. Im beobachtbaren kugelförmigen Universum liegt dieses Zentrum immer im Auge des Betrachters. Alles, was hinter dem Ereignishorizont liegt, kann uns nicht erreichen. Dies eröffnet uns neue Fragen: Kann etwas existieren, wenn es nicht Teil unseres subjektiven Universum ist? Ist Existenz subjektiv?
Cyberspaces
Der Film Tron (1982) beschreibt eine Vision des Cyberspace: Ein virtueller Raum, in dem sich Computerprogramme als geometrische Objekte wiederfinden. In diesem Raum übertragen sich die Protagonisten des Films. Der hier präsentierte Cyberspace ist ein euklidischer, nichtphysikalischer Raum. Die Ästhetik der Welt von Tron ist die der frühen Computergrafik. Es gibt nur einfarbige Flächen, keine Texturen, und Formen werden durch Kanten präsentiert. Im gleichen Jahr wird diese Vision eines virtuellen Raumes zum ersten mal durch den Autor William Gibson im Roman Neuromancer benannt: Cyberspace. Zu dieser Zeit war noch nicht das Internet erfunden und die Erfahrung einer virtuellen Welt für die meisten Menschen noch sehr weit weg, was möglicherweise ein Grund für den Flop des Films war. Der Film war seiner Zeit voraus. Durch technologischen Fortschritt wurde diese Vision für immer mehr Menschen erfahrbar. Kernelement im Cyberspace ist die Verortung eines Avatares, also eines repräsentativen Körpers, in die Welten von Onlinespielen oder sozialen Plattformen wie z.B. Avatar-basierte Chaträume. Virtuelle Gesellschaften mit vielen Teilnehmern finden sich in massive multiplayer online games (MMOGs). In den ersten Jahren fanden MMOGs großen Anklang in der Öffentlichkeit (z.B. World of Warcraft, Second Life). Vorläufer dieser Welten waren die MUDs (multi-user dungeons). Heutzutage kennen selbst Technologie-affine Menschen dies nicht mehr. MUDs sind textbasierte online-Welten, in denen sich viele Leute zum Spielen oder Chatten treffen. MUDs waren spektakulär, da sie für viele Menschen die Teilnahme an virtuellen Welten ermöglichten. Ein besondere Bedeutung haben Rollen, in denen die User schlüpfen, die sich von den Rollen, die wir im RL (real life, das reale Leben) sonst einnehmen unterscheiden. Für ein Alter Ego ist Anonymität Voraussetzung, die der künstlich erzeugte Avatar erlaubt. Die Anonymität gibt einem die Freiheit sich neu auszuprobieren. Einen umfassenden Cyberspace gibt es eigentlich gar nicht, vielmehr existieren eine Vielzahl von virtuellen Räumen. Manchmal meint der Begriff des Cyberspace die Gesamtheit des Internets und der digitalen Repräsentation. Unterscheidungen zwischen Protokollen wie z.B. den Unterschied zwischen Internet und Web bereitet vielen Menschen Schwierigkeiten. Schließlich benutzt man ein Endgerät und kann dann eine „Computerwelt“ betreten. Physikalisch befindet man sich an einem Ort und interagiert mit einem Gerät. Es ist also naheliegend das der Cyberspace als etwas singuläres verstanden wird. Für die meisten Menschen ist das Web als eine Form des Cyberspace real erfahrbar. Es ist fraglich, ob beim Web der Raumbegriff passend ist, denn der im üblichen Sprachverständnis bezeichnete Raum ist euklidisch. Im Gegensatz zum euklidischen Raum gibt es den weiter gefassten mathematischen Raumbegriff, der nur eine mit einer Struktur versehen Menge bezeichnet. Diese allgemeinere Definition ist passender, denn im Web navigiert man ohne Avatar, also ohne virtuellen Körper, zwischen den Websites. Der Ort an dem man sich „befindet“, ist die betrachtete Seite. Im Prinzip verhält es sich beim Surfen im Internet wie beim Stöbern in einer Bibliothek, wobei nur die geistige Tätigkeit des Lesers gemeint ist. In der Wahrnehmung des Nutzers gibt es dennoch eine Navigation, denn Browser zeigen immer nur eine Website an und Hyperlinks eröffnen dem Nutzer Pfade, die er beschreiten kann. Technisch gesehen begibt sich der Nutzer nicht zu einer Website, sondern die Seite kommt zum Betrachter, nachdem man beim Server angefragt hat. Die Form der geistigen Navigation entlang der Pfade macht das Erlebnis zu einer körperlosen, metaphysischen Navigation in einem Raum.
Die Verknüpfung zwischen dem Web und einem euklidisch erfahrbaren Cyberspace wurde immer wieder versucht zu etablieren. Aktuell arbeitet Mozilla mit der JavaScript-Bibliothek A-Frame an dieser Vision. Diese Bibliothek erlaubt Entwicklern virtuelle Realität einfach den Nutzern über den Browser zur Verfügung zu stellen. Die Einbettung des Webs in einen euklidischen Raum transformiert das Web von einer metaphysischen Erfahrung hin zu einem virtuellen Raum. Dieser Raum ist nun näher an unserer üblichen, natürlichen Erfahrung des Raumes. Dadurch wird die Erfahrung körperlicher und weniger transzendental. Nachdem die physikalische Kosmologie den Seelenraum entfernt hat, eröffnete sich durch das Tor zum Cyberspace wieder die Möglichkeit das Transzendentale an die Realität anzuknüpfen. In der gnostischen Lehre (Gnosis, Erkenntnis) geht man davon aus, dass die Materie und unsere Körperlichkeit überwunden werden muss, um die Seele zum Göttlichen, Guten zu überführen. Die Tech-Gnostiker ersuchen dies mit Technologie. Sind sind daher meistens Transhumanisten, aber nicht jeder Transhumanist muss Gnostiker sein. Viele Internet- und Tech-Pioniere verfolgten gnostische Ideale, denn der Cyberspace verspricht die Überwindung der Körperlichkeit. In dieser Überhöhung des Cyberspaces finden sich Parallelen zur mittelalterlichen dualistischen Kosmologie. Der Cyberspace ist ein körperloser Raum, der aber dennoch über unseren Raum zu erreichen ist. Zugang sind Peripheriegeräte wie Bildschirme, Mikrofone, Maus, Tastatur. Endstadium des Transhumanismus ist die Verschmelzung über Neuroimplantate mit Upload unseres Geistes. Aufgrund des Verhalten des Körpers diese Implantate entweder aufzulösen oder abzukoppeln, ist allerdings in den nächsten Jahren nicht mit der Umsetzung zu rechnen. In der Tech-Gnostik wird durch den Upload der Mensch unsterblich und göttlich (theosis). Gesellschaftlich werden technische Möglichkeiten zur Steigerung menschlicher Fähigkeiten jenseits der normativen Fähigkeiten erstmals abgelehnt. Der Ausgleich von Schwächen relativ zur Norm ist gesellschaftlich hingegen akzeptiert. Auch zum Transhumanismus finden sich daher oft eher ablehnende Stimmen. Tatsächlich sind die Informationen im Cyberspace aber mittelbar mit der Realität verknüpft. Es sind bits, die irgendwo auf einem Server abgespeichert oder erzeugt wurden, der sich auf diesem Planeten befindet. Wir müssen also feststellen, dass Cyberspace sich nicht ganz vom physikalischen loslösen lässt. Der Glaube an den Tech-Gnostizismus funktioniert also nur über eine Ablehnung des monistischen Kosmos indem dem Cyberspace eine Metaphysik zugesprochen wird. Das Interesse an der Vision vom Cyberspace hat nachgelassen, da das Thema nicht mehr neu ist und sich die Nutzung und Wahrnehmung des Internets geändert hat. Dazu kommen wir jetzt.
„Wann kommst du wieder on?“
Dieser Satz war am Ende der 00er Jahre ganz üblich. Heute ausgesprochen würde er irritieren. Schließlich sind wir doch immer online. Der Internetzugang wurde dank Laptops, WiFi und Smartphones mobil. Da wir immer online sind, gehen wir nicht mehr „ins Internet hinein“. Dies änderte das Nutzungsverhalten des Internet nutzenden Mainstreams. Zugleich wurden soziale Netzwerke populärer. Da das Internet nun eine Erweiterung unserer Realität ist, sinkt das Interesse an einem anonymen Alter Ego. Wir präsentieren und vermarkten uns unter unserem Klarnamen: Facebook, Instagram, LinkedIn. Sensoren in Smartphones verstärken weiter die Verbindung von Internet und der Realität. Spiele wie Pokemon Go oder der Vorläufer Ingress, aber auch Dienste wie Yelp und google maps erweitern den Raum. Dadurch wird das Internet nicht mehr als ein mystischer Ort verstanden, sonder als eine unsichtbare Datenwolke, die den Raum erweitern. Mit dem zukünftigem Einsatz der Funktechnologie 5G wird dieser Trend nur weiter fortgesetzt werden. Das Bild des Cyberspaces ist wieder geerdet. Diese Ästhetik des revolutionären Raumes wird jetzt in nostalgischer Funktion wieder aufgegriffen. Dreißig Jahre später zitiert man diese Anfänge in der Computergraphik im Genre des „Vaporwave“. Die Vektordisplays und texturlosen Formen sind ein herausragende Artefakte dieser Zeit, die seit vielen Jahren durch hochaufgelöste Pixeldisplays mit volltexturierten Oberflächen ersetzt wurden. Deshalb dienen sie als Schlüssel, der die Nostalgie zu dieser Zeit erweckt. Als Zitat zeigen sie, dass der Cyberspace inzwischen mehr Vergangenheitsgewandt als Science-Fiction geworden ist.
Die Unmöglichkeit einer Matrix
Viele Menschen lassen sich über die Fortschritte in der Computergraphik über die Machbarkeit einer Virtualisierung der Realität täuschen. Die Simulationshypothese, nach der das Universum nur eine Simulation sein soll, erfreut sich inzwischen einer sehr großer Beliebtheit. Doch das Universum ist nicht nur ein optisches Phänomen. Die Realität hat viele Ebenen, die nicht Teil unserer menschlichen Erfahrung sind. Um sie zu zu observieren braucht es Werkzeuge wie z.B. Mikroskope. Diese jenseits der Alltäglichkeit liegenden Ebenen können nicht einfach „wegmodelliert“ werden. Eine nur auf menschlichen Erfahrungen moderierte Matrix ist eine deutlich reduzierte Version der Realität. Ein Atomreaktor wird in einer Computergraphikrealität niemals arbeiten können, sofern er nicht durch ein reduzierendes Modell beschrieben wird.
Der Cyberspace ist nicht lebendig
Viele virtuellen Räume wirken steril. Von Spieleentwicklern entworfene Räume sollen Geschichten erzählen, die aber nur fiktional sind. Sozial genutzte virtuelle Räume enthalten weniger fiktionale Geschichten, denn die Nutzer selber bewohnen den Raum und machen ihn lebendig. Nur wenige solcher Räume erlauben die Veränderung durch die Nutzer und die Veränderungsmöglichkeiten sind auch sehr begrenzt. Wenn man einen alten Abstellraum oder Dachboden betritt, ist dies eine ganz besondere Erfahrung. Hier liegen Gegenstände, vielleicht alte Bücher, Schallplatten, Kleider. Alle diese Gegenstände erzählen Geschichten. Jeder von uns produziert kontinuierlich Geschichten und verändert den Raum um sich herum. Der virtuelle Raum bleibt weitestgehend steril. Der meistbesuchte Ort der Welt ist vermutlich nicht das Times Square, sondern de_dust. Ich kann de_dust jederzeit betreten, in dem ich Counter Strike starte und mich über meinen Avatar in die virtuelle Welt begebe. Doch dabei gruselt es mich etwas. Millionen Menschen liefen hier an diesem sterilen Ort herum und dennoch ist keine Spur davon vorzufinden. Göttlich und unsterblich sieht anders aus.
Zum Weiterlesen
Margaret Wertheim: Die Himmelstüre zum Cyberspace - von Dante zum Internet
Englische Originalausgabe: The Pearly Gates of Cyberspace: A History of Space from Dante to the Internet. 1999. Dt.: Die Himmelstür zum Cyberspace : eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet. Ammann, Zürich 2000, ISBN 3-250-10417-5.